Tarifintervention in der Schweizer Physiotherapie: Warum 10 000 Therapeut:innen auf die Straße gingen

Oct 14, 2025

Im November 2023 protestierten über 10 000 Physiotherapeut:innen in Bern gegen die geplante Tarifintervention des Bundesrats. Was steckt hinter den Änderungen, warum sorgt das Punktesystem für Unmut – und welche Reformen fordert die Branche?

 
Ein historischer Protest in Bern


Im November 2023 erlebte die Schweiz eine der größten Gesundheitsdemonstrationen der letzten Jahre:
Über 10 000 Physiotherapeut:innen, Patient:innen und Unterstützer:innen versammelten sich auf dem Bundesplatz in Bern.

Der Grund: Der Bundesrat plante eine Tarifintervention, also einen staatlichen Eingriff in die Preisstruktur der medizinischen Grundversorgung.
Weil sich Berufsverbände – allen voran Physioswiss – und Krankenkassen nicht über neue Tarife einigen konnten, wollte der Bund die Vergütung per Verordnung festlegen.

Das erklärte Ziel laut Behörden: Einheitlichkeit, Kostendämpfung und Qualitätskontrolle.
Für viele Therapeut:innen jedoch klang es nach einem weiteren Schritt Richtung Zentralisierung und Bürokratisierung.

 
Geplante Änderungen im Überblick


Die Reform zielte darauf ab, die Abrechnung zu vereinheitlichen und Behandlungen effizienter zu gestalten.
Konkret sah der Bundesrat folgende Änderungen vor:

Standardisierte Sitzungsdauern – beispielsweise 20, 30 oder 45 Minuten, unabhängig vom individuellen Behandlungsbedarf.
Grundpauschale für die ersten 20 Minuten, danach Abrechnung in 5-Minuten-Blöcken.
Einschränkung der „komplexen Physiotherapie“ (Tarifcode 7311): Nur noch bei klar definierten Diagnosen erlaubt.
Während der Bund von Effizienzsteigerung sprach, sahen viele Therapeut:innen das Gegenteil:
mehr Kontrolle, mehr Dokumentationspflichten – und weniger Zeit für Patient:innen.

„Wir brauchen Freiheit für individuelle Behandlung, nicht starre Minutenpläne“, forderten Demonstrierende auf Transparenten.
 
Das aktuelle Tarifsystem kurz erklärt


Das Schweizer Physiotherapie-Tarifsystem basiert auf einem Punktwertmodell:
Jede Behandlungseinheit ist mit einer bestimmten Anzahl Punkte bewertet.
Diese Punkte werden mit einem kantonal festgelegten Frankenwert multipliziert, woraus sich der endgültige Preis ergibt.

Zusätzlich gilt das Prinzip der Kostenneutralität – das bedeutet:
Wenn eine Tarifrevision an einer Stelle höhere Einnahmen bringt, müssen an anderer Stelle Kürzungen erfolgen, um die Gesamtbelastung der Grundversicherung konstant zu halten.

Ein Beispiel:
Eine Standardbehandlung (Code 7301) wird mit 48 Punkten vergütet, eine komplexe Behandlung (Code 7311) mit mehr Punkten.
Erhöht man den Punktwert für eine Leistung, muss an anderer Stelle gekürzt werden.

Dieses starre System erzeugt ein Dilemma:
Wer mehr Qualität bietet oder sich mehr Zeit nimmt, wird nicht automatisch besser bezahlt.

 
Häufige Kritikpunkte am Tarifsystem


Physiotherapeut:innen, Praxisinhaber:innen und Berufsverbände äußern immer wieder ähnliche Beschwerden – öffentlich, in Foren und in Fachmedien.
Hier die wichtigsten acht Kritikpunkte, die den Berufsalltag prägen:

Eingeschränkte Therapiefreiheit
Fixe Zeitblöcke verhindern flexible, patientenorientierte Behandlungen.
Zunehmende Bürokratie
Abrechnungsregeln, Tarifcodes und kantonale Unterschiede bedeuten enormen Verwaltungsaufwand.
Ungerechte Vergütung
Zusatzausbildungen, Spezialisierungen oder der Einsatz teurer Geräte spiegeln sich kaum im Einkommen wider.
Regionale Unterschiede
Punktwerte variieren je nach Kanton – teils bis zu 15 % weniger Vergütung in Randregionen.
Fehlende Langzeitperspektive
Präventive Maßnahmen werden selten honoriert, obwohl sie langfristig Kosten senken.
Wirtschaftlicher Druck
Hohe Fixkosten (Mieten, Material, Personal) treffen auf stagnierende Punktwerte – das gefährdet Praxen.
Gefahr der Unterversorgung
In ländlichen Regionen lohnt sich eine Praxis oft nicht mehr – Patient:innen müssen längere Wege auf sich nehmen.
Komplexe Abrechnungssysteme
Das Tarifsystem ist für viele Patient:innen und selbst für Therapeut:innen schwer nachvollziehbar.
 
Petition und politische Folgen


Die Petition „Physiotherapie braucht Zukunft“ sammelte über 283 000 Unterschriften – eine der größten Gesundheitsinitiativen der letzten Jahre.
Sie forderte:

Faire Tarife und Löhne
Weniger Bürokratie, mehr Zeit für Behandlung
Sicherung der Versorgung in allen Regionen
Das Thema bleibt auch 2025 aktuell: Die Umsetzung der neuen Tarifstruktur ist weiterhin in Diskussion, und die Verbände verhandeln über ein zukunftsfähiges Modell.

 
Fazit: Ein System am Scheideweg


Der Konflikt um die Tarifintervention zeigt exemplarisch, wie schwierig es ist, Effizienz und Menschlichkeit im Gesundheitssystem zu vereinen.
Was als Maßnahme zur Kostenkontrolle begann, hat den Berufsstand der Physiotherapeut:innen aufgerüttelt und eine Debatte über die Werte der Heilberufe ausgelöst:

Wie viel Regulierung ist sinnvoll?
Wie viel Freiheit braucht Qualität?
Und wie kann man Bürokratie abbauen, ohne Versorgungssicherheit zu gefährden?
Eine nachhaltige Lösung wird nur dann möglich sein, wenn Vertrauen, Eigenverantwortung und faire Rahmenbedingungen wieder in den Mittelpunkt rücken.

Denn gute Physiotherapie ist kein Kostenfaktor – sondern eine Investition in Gesundheit, Prävention und Lebensqualität.

 
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